Sozialisation in der heutigen Gesellschaft

Sozialisation meint … die Gesamtheit der gesellschaftlichen Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen.”1 Die vorangegangenen Ka­pitel ließen aber bereits erkennen, “daß von einem heranwachsenden Men­schen ausgegangen wird, der auf seine Lebens- und Lernprozesse ei­nen aktiv-gestaltenden Einfluß nimmt. Menschen sind nicht Opfer ihrer So­zialisation, sondern sie wirken auf sich und ihre Umwelt immer auch sel­ber ein und entwickeln sich auf diese Weise zum handlungsfähigen We­sen, zu ei­nem Subjekt.”2 Demzufolge wird der Mensch nicht nur sozialisiert, er sozialisiert sich zum Teil auch selbst.3

Es wird … nicht mehr davon ausgegangen, daß Entwicklung ein innerpsy­chischer organischer “Reifungsprozeß ist, der auf ein zumeist übersteiger­tes ideales Ziel hinausläuft“, sondern Entwicklung hängt maßgeblich von so­zialökologischen Kontexten … und von Rollenanforderungen und -erwar­tungen der Gesellschaft ab. … In diesem Sinne werden Kinder und Ju­gendliche betrachtet, die zwar motivationale Grundstrukturen und Hand­lungsimpulse et­wa innerpsychisch selbst hervorbringen. Die psychischen Prozes­se sind aber nicht per se als Ablaufschema verstehbar, sondern er­fahren, bearbeitet und verwirklicht werden diese immer in Rückkopplung, aktiver Auseinanderset­zung und Verbindung mit ihren jeweiligen Umwel ­ten.”4

Dies kann man verstehen als eigentätige Auseinandersetzung, als Aneig­nung dieser Umwelten. “Aneignung steht ab­strakt-allgemein für den Sach­verhalt, daß Individuen sich zu den materiel­len und sozialen Kontexten ihrer Leben­spraxis als selbstständig handelnde Akteure in Beziehung set­zen. Die Wirklichkeit ist ihnen nicht schlicht gege­ben, sondern erschließt sich durch Praxis, durch die sinnerschließende Bedeutung von Objekten und Personen.”5

Dabei kommt dem kindlichen Spiel als spezifische Aneignungstätigkeit die­ser Altersgruppe eine wichtige Bedeutung zu.6 Denn das Spiel ist keine Nachah­mung von vorgefundener Welt, sondern in ihm werden vielmehr “ sichtbar und wirksam, vergegenständli­chen sich Erfah­rungen, Ängste, Lüste, Hoffnungen, Bedürfnisse und Lei­den, entwickeln sich die persönlichen Formen des Genusses, entsteht das Teilhabebewußtsein an der technischen und ästhetischen Kultur, wird Kommunikationsfähigkeit unter Beweis gestellt, werden Identitätsentwürfe erprobt.”7

Aneignung “ist ein sehr produktiver Lern- und Gestaltungsprozeß, in dem Kin­der die Akteure und Regisseure sind. Sie wählen die Themen und mü­hen sich im konkreten Handeln darum, Bedeutendes und Gesichertes für sich zu erarbeiten. In diesem Sinne leben sie auch Kultur nicht aus, imitie­ren sie nicht, sondern schaffen sie. Diese Kultur ist bestimmt von Erfahrun­gen, über die sie sich vor allem miteinander austauschen … Die Chancen für ein sol­ches Aneignen und Kulturschaffen sind allerdings abhängig von konkreten Bedingungen und Partizipationsmöglichkeiten.“8

“Der Aneignungsprozeß ist für Kinder und Jugendliche quasi eingebettet in den “Raum“ unserer Gesellschaft, in die durch die Strukturen der Gesell­schaft geschaffenen konkreten räumlichen Gegebenheiten. … die Katego­rie des Raumes spiegelt mit seinen Elemen­ten auch die Strukturen der Gesellschaft wieder. … Weil Räume, vor allem städti­sche Räume, nicht natur­belassen, sondern ganz und gar vom Men­schen bearbeitet, gestaltet, ver­ändert und strukturiert sind, müssen sich die Kin­der und Jugendlichen die­se Räume und die in ihnen enthaltenen Bedeu­tungen … aneignen … .“9 Was allerdings durch die bereits ange­sprochene Erwachsenenkultur er­schwert werden könnte, die als Ausdruck der Gesamtheit der geistigen und künstle­rischen Ausdrucksformen einer (Erwachsenen-) Gesellschaft in Gestalt des Raumes immer präsent ist und der eigenen Kultur behindernd oder gar verunmögli­chend gegen über stehen könnte.

Allerdings muß man hier noch einmal betonen, daß “die Anpassung an die Umwelt keines­wegs als das Prinzip der menschlichen Entwicklung zu be­trachten (ist). Ein Mensch kann sich im Gegenteil auch dahin entwickeln, daß er den Rah­men seiner begrenzten Umwelt verläßt, daß er sich ihr nicht an­paßt, weil er durch sie daran gehindert wird, den Reichtum echter menschli­cher Züge und Fähigkeiten voll zu entfalten. “10 – Sich also nach Rogers selbst zu verwirklichen.

Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werde ich deshalb auch nur auf die­sen, mir am wich­tigsten er­scheinenden Bereich eingehen. So spielt vor al­lem das Wohnum­feld, also der Raum, wo sich den Kindern und Jugendli­chen die kon­kreten Verhält­nisse un­serer Gesell­schaft vermitteln, also die Er­wachsenenkultur der Heranwachsendenkultur gegenübertritt, eine wichtig­e Rolle für de­ren Entwicklung. So macht es etwa einen Unterschied, “ob ein Kind auf ei­nem Bauernhof auf­wächst, oder in der 8. Etage eines Hochhau­ses an einer stark befahre­nen Straße … .“11

Während in den ersten Lebensjahren die Wohnung noch der zentrale Le­bensraum ist, übt mit zunehmendem Alter die Wohnumgebung einen im­mer größeren Einfluß auf die Entwicklung aus.

Wohnumfeld und Entwicklung von Kindern und Jugendlichen

Das Wohnumfeld spielt für die Entwicklung von Kindern mit zuneh­mendem Alter eine wichtige Rolle, wobei Baackes sozialökologischer An­satz12 zur Ver­deutlichung sehr hilfreich sein kann.

Er macht deutlich, daß die Umwelt, als räumliche Struktur betrachtet, die “Ge­genstände, Ereignisse, Prozesse und Personen … (bereit­hält), die das Kind wahrnimmt und mit denen es im Aufwachsen seine eigene Welt aufbaut und konstituiert. … Durch wahrnehmenden und handelnden Umgang mit der so­zialen Umwelt erfährt die Entwicklung des Kindes entscheidende Formen der Beeinflussung: durch Behin­derung oder Förderung. … Umwelt definiert Ver­halten und beeinflußt Handeln; Verhalten und Handeln definie­ren Um­welt.“13 Diese Umwelt ist der konkrete Raum kindlichen Erle­bens. Sie muß aber nicht unbedingt den Bedürfnissen aller in ihr weilen­den Per­sonen entspre­chen, welche aber wie­derum (wie bereits beschrie­ben) die Möglich­keit be­sitzen, sich anders zu ver­halten, als die Um­welt dies eigentlich vor­schreibt bzw. vorsieht – sie also Einwirkungsmöglichkei­ten be­sitzen.

Baacke untergliedert die kindliche und jugendliche Umwelt in vier so­zialökologische Zonen (siehe Grafik), welche folgenderma­ßen zu verstehen sind:

  • Das ökologische Zentrum ist das Zuhause, also jener Ort, an dem sich das Kind mit seinen unmittelbarsten und wichtigsten Bezugs­personen, al­so der Familie, auf­hält und interagiert. Für Jugendliche kommt im Ide­alfall noch hinzu, daß ih­nen in der häuslichen Wohnung eine In­timzone zugestan­den wird, die sei­nen wachsenden Distanzie­rungsbedürfnissen entge­genkommt.
  • Unter dem ökologischen Nahraum versteht Baacke die Nachbar­schaft, den Stadtteil, das Viertel, die Wohngegend, bzw. das Dorf. Hier nimmt das Kind seine ersten Außenbeziehungen auf.

Für Jugendliche bedeutet diese Zone auch ihr “Revier“, ausge­stattet mit Treffpunkten Gleichaltriger, wie z. B. die nahegelegene Disco, der Stadt­teilpark mit seinen Bänken und Nischen, Kiosken, Kneipen, etc. Je mehr hiervon vorhanden sind, desto optimaler wird diese Zone empfun­den.

  • Die ökologischen Ausschnitte sind zweckbestimmte, mit funktionsspezi­fischen Aufgaben belegte Orte, wie z. B. Schulen, Läden, Schwimmbä­der. Das Kind muß hier lernen, bestimmten Rollenan­sprüchen gerecht zu wer­den und diese Orte nach ihren vordefi­nierten Zwecken zu nutzen.

Für ältere Jugendliche kommt dieser Zone noch die Bedeutung zu, daß – wie in der letzten Zone auch – hier die Möglichkeit besteht, peer-Bezie­hungen zu bilden.

  • Als ökologische Peripherie bezeichnet Baacke jene Zone, in der gele­gentliche Kontakte und zusätzliche, ungeplante Begegnungen entste­hen, wel­che von den ersten drei Zonen überhaupt erst er­möglicht wer­den. Es sind unvertraute, nichtalltägliche Orte – wie z. B. der Kinobe­such im Stadtzen­trum, Besuche bei weiterentfernten Verwandten und Ur­laub – die mit be­sonders intensiven Eindrücken einhergehen können. Dies gilt auch und insbesondere für verbote­ne Orte.

Jugendlichen kommt dieser Zone noch Bedeutung bei, weil sie in ihr ih­ren Handlungsspielraum erweitern können und somit auch mehr Aus­weichmöglichkeiten und Alternativen zu ihrer unmittelba­ren Umwelt er­werben können.

Baake - so­zialökologische Zonen


Grafik14

Baacke geht nun davon aus, daß die ersten drei Zonen (Grafik oben) dem Auf­wachsen von Kindern entsprechen, denn deren Welt “wächst“ mit zu­nehmendem Alter. Halten sie sich also zunächst in der Nähe der un­mittelbaren Bezugs­personen auf, so kommt als nächster Entwick­lungsschritt die Erkundung des ökologischen Nahraums, also der Nachbarschaft, bestehend aus Stra­ße, Spielplatz, der Räume und Nischen um das elterliche Haus. Späte­stens mit dem Schul­beginn be­treten sie die dritte Zone, wo ihre Lebenswelt in funktionsspezifi­sche Räume zerfällt. Die Kinder können (und müs­sen) noch zwischen den einzel­nen Zonen pendeln.

Dabei wächst die Welt der Kinder nicht nur, sondern sie selbst wach­sen in ihr. Denn je “mehr Bewegungsfreiheit, Kommunikations- und Handlung­schancen die einzelnen Zonen für Kinder bereithalten, de­sto stärker wird de­ren Ent­wicklung in jeder Hinsicht gefördert. Kin­derunfreundliche, reizar­me Um­welten behindern Kinder, ebenso wie großzügige Räume, varian­tenreiche Mannigfal­tigkeit und nichtrestrik­tives Erwachsenenverhalten Kin­dern günsti­ge Entwicklungsspielräu­me gewähren.15

In Bezug auf Jugendliche kommt diesen Zonen eine ähnliche Bedeutung zu16. So unterscheiden sie sich aber, abgesehen davon, ob der Schüler z. B. ein Gymnasium au­ßerhalb seines ökologischen Nahraums besucht, ein Lehr­ling in einem Groß­betrieb außerhalb arbeitet oder aber, ob er z. B. ei­ne Hauptschule im nahen Bezirk besucht, in einem ortsansässi­gen Klein­betrieb arbeitet. Hier­von hängt ab, ob er überhaupt Zeit und Interesse hat, sich im Nahraum auf­zuhalten, oder nicht lieber peer-Beziehungen außer­halb des ökologi­schen Nahraums aufbaut. Blei­ben sie in ihrem bekannten Bezirk aus den oben ge­nannten Gründen gebunden, nehmen sie an den Gleichaltrigen­gruppen und -aktionen in der Nachbarschaft intensiver teil.

Diese Aufenthaltsorte müssen aber nicht unbedingt die erwünschten und be­nötigten sein. Deshalb ist es oftmals so, daß diese Räume für Jugendli­che und Kinder viele Enttäuschungen bereithalten.

Erklären kann man sich dies, weil Raumwahrnehmung und Raumaneig­nung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen stark auseinander drif­ten. “Ein verwil­dertes Brachgelände kann in den Augen erwachsener Pla­ner als un­schön, dreckig und gefährlich, in den Augen von Kindern aber vor allem als schön, erlebnis­reich und grün betrachtet wer­den. … Kleine Kinder (6 – 8jährige) werden weni­ger durch die Präsenz menschlicher Ein­flüsse in na­türlichen Landschaften beeinflußt, wo­hingegen junge und im mittleren Le­bensalter befindliche Er­wachsene die Qualität einer Landschaft weniger positiv bewerten, wenn Natür­lichkeit abnimmt. Das Vorhandensein von Wasser erhöht für kleine Kinder den szenischen Wert einer Land­schaft, ein relativ höheres Re­lief vergrößert die Landschaftsqualität für jun­ge Er­wachsene deutlich, ist für Kinder jedoch unerheblich. … Während Kinder vor al­lem auf die physikalische Form einer Landschaft reagieren, werden Erwach­sene in Entscheidungen sowohl von der Form als auch von der so­zialen und kulturellen Bedeutung der Landschaftsele­mente beein­flußt. “17

Auch haben Kinder “ihre eigenen Relevanzsysteme und Ortsbevorzugun­gen. Die Nutzung der Räume geht nicht auf in den Funktionen, die Archi­tekten und Planer ihnen zugewiesen haben. Boden und Kel­ler, normaler­weise nur Ab­stellräume, werden nicht nur zu beliebten Orten beim Ver­steckspiel, son­dern auch zu Stätten geheimer Ver­sammlung, zu Tempeln, an denen Heilig­tümer aufbewahret werden. Das sauber-aufgeräumte Zim­mer der Eltern hin­gegen bleibt fade und leer, zumal die Wohlanständigkeit in ihm verbietet, das zu tun, wozu Phantasie und Imagination Kinder (manchmal) treiben.“18

Genauso verhält es sich aber auch auch mit (von Erwachsenen ge­planten) Orten und Plätzen, dem Wohnumfeld / dem sozialökologi­schen Nahraum der Kinder und Jugendlichen.

Diese, mit sozialer und kultureller Bedeutung belegten Räume und Zonen ei­ner (Erwachsenen-) Gesellschaft, sind oftmals verknüpft mit Kontrollen und Anforderungen sei­tens der Er­wachsenen und mit zuviel Nüchternheit und Gleichförmig­keit seitens der baulichen Planung von Erwachsenen. Bieten al­so für Kinder und Jugendli­che, die auf Selbst- und Weltentdec­kung gehen wollen (und müssen) zu wenig Reize. Wie sollen sie sich mit ihrem sozialen Nahraum auseinander­setzen, wenn er ihnen zu wenig Sti­muli bieten kann und will, ihnen oftmals keine Sicherheit bietet, und sie so­mit in ihren Kommunika­tions- und Hand­lungsmöglichkeiten stark ein­schränkt?

Dabei ist es doch gerade die Faszination von frei zugänglichen Orten, die da­zu beiträgt, daß Kinder und Jugendliche Erfahrungen in für sie positiven Er­lebnisräumen sammeln können und dadurch auch gute Entwicklungs­möglichkeiten vorfinden.

So stellt Bartscher fest: “Kinder haben bei freier Bewe­gungsmöglichkeit mehr Handlungsfreiheiten, entwickeln differenzier­tere So­zialbeziehungen zu Gleichaltrigen als Kinder, die sich nur begleitet auf öffentlichen Spiel­plätzen aufhalten, haben interessantere Spiel­objekte und phantasiereiche­re Spiele. … Schließlich ließ sich durch verglei­chende Untersuchun­gen19 … feststellen, daß die Kin­der aus günstigen Wohnumfeldern im Sozialverhalten, in der motori­schen und kognitiven Ent­wicklung deutlich weiter ent­wickelt wa­ren als die Kinder aus ungünstigen Wohnumfeldern.“20 Zudem zeigten Beispiele jener Untersuchungen, daß unter günstigen Bedingun­gen im Wohnumfeld ganz eigene Kinderkulturen entstehen können.

Wie oben bereits angesprochen, ist der Sicherheitsaspekt des Wohnum­feldes ebenfalls von Bedeutung, denn solange “Kinder sich nicht sicher füh­len, wer­den sie ihre Umwelt nicht explorieren, und diese Exploration ist not­wendig für die kognitive, emotionale und motori­sche Entwicklung.“21 Aber auch die Er­wachsenen stellen, aus Angst dem Wohnumfeld gegen­über – seien es nun der Straßenverkehr oder das “soziale Milieu“ der Wohnge­gend – Bedin­gungen an die Kinder, womit man deren Möglichkeit, sich von der Elternwoh­nung zum Spie­len und Treffen mit Gleichaltrigen zu entfer­nen, in vier Variatio­nen einteilen kann22:

  • Freie Entfernung
  • Entfernung mit Erlaubnis der Eltern
  • Entfernung mit Erlaubnis mit anderen Kindern
  • Entfernung mit bekannten Erwachsenen

Bartscher rückt so auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei der Raumaneignung und Raumnutzung in den Blickpunkt. “Jun­gen haben in der Regel gleichaltrigen Mädchen gegenüber deutlich mehr Kompetenzen in der Raumaneignung, was ausschließlich auf Erfahrungsunterschiede durch häufige­re und freiere Bewegung im Freiraum zurückzuführen ist. Be­zogen auf das Raumverhalten von Mädchen ist insbesondere die Tatsache von Bedeu­tung, daß Mädchen ab einem Alter von ca. elf Jahren – bis zu diesem Alter wer­den Mädchen und Jungen in etwa gleich behütend behan­delt – in ih­rem Bewegungsdrang stärker eingeschränkt werden, wäh­rend Jun­gen ab diesem Alter freizügiger ihre Umwelt entdecken dürfen. Hier wirkt die Angst der Eltern um die körperliche Unversehrtheit ihrer Töchter hemmend und ver­hindert, daß Mädchen ihren Streifraum ge­nauso erwei­tern wie Jungen im ent­sprechendem Alter. Noch immer wirken … außer­dem traditionelle Rollen­prägungen, nach denen Mäd­chen stärker im Haus­halt eingebunden sind … .“23

Untersuchungen von Flade und Kustor 24 zusammenfassend, stellt er somit fest, daß

  • sich Jungen öfter draußen aufhalten.
  • das Spielverhalten von Jungen sport-, großgruppen- und körperorien­tierter und damit raumgreifender als das der Mädchen ist. Sie besetzen die typi­schen Spielraumangebote, wie z. B. Bolzplätze und Skateranla­gen, wäh­rend Mädchen, da sie mehr Wert auf Kommunikation und so­ziales Verhal­ten legen, Treffpunkte und Aufenthaltsmöglichkeiten su ­chen, wo sie im en­geren Kreis auch mal unter sich sein können.
  • die Mobilität der Jungen im Wohnumfeld größer ist, als die der Mäd­chen. Denn während Jungen öfter das Fahrrad benutzen, grei­fen Mäd­chen eher auf öffentliche Verkehrsmittel zur ück oder ge­hen zu Fuß.
  • Jungen einen größeren Bewegungsraum haben als Mädchen. Denn wäh­rend Jungen gelegentlich auch Orte im weiteren Umfeld aufsuchen, nut­zen Mädchen (auch aus den o. a. Punkten) woh ­nungsnahe und ge­schützte Spielbereiche.

Stehen einem Kind also zusammenfassend genügend Möglichkeiten zur Ver­fügung, seinen Bedürf­nissen zum Spielen nachzukommen, öffnen sich ihm ganz andere Entwick­lungschancen in motorischen und kommunikati­ven Berei­chen, als denjeni­gen, die durch Defizite in ihrem kindlichen Wohnumfeld dieser beraubt werden.25

Deinet - so­zialökologische Bereiche


Grafik26

Deinet fügt ergänzend das Modell von Thomas (Graphik) hinzu, welches dem Baakes nachempfunden ist und lediglich einzelne sozialökologische Bereiche deut­licher ausdifferenziert.

Sowohl Baackes als auch Thomas´ Modell liegt außerdem das Konzept des sich erweiternden Handlungsraumes zugrunde.

“Die Untersuchung der Lebenswelten und der Ansatz der Sozialökologie sind durch vergleichbare Tendenzen wissenschaftlicher Betrachtung ver­bunden. Die Lebenswelt eines Jugendlichen erschließt sich im Längs­schnitt seiner Biographie und im Querschnitt der verschiedenen ökologi­schen Zonen und Bereiche. Jugendliches Erleben wird als Ganzheit in sinnstiftenden (oder auch sinnversagenden!) Umräumen (ökologischen Zo­nen) aufgefaßt. … Auf diese Weise wird seine Lebenswelt plastisch und in ihren Zusammenhängen ausgebreitet. Jugendsoziologie und Entwick­lungspsychologie erscheinen dann als nicht trennbar, und gesellschaftli­che, politische oder pädagogische Fragen werden nicht zusätzlich heran­gebracht, sondern sind dem Ansatz bereits immanent.“27

Und dies gilt natürlich auch bezogen auf die Lebenswelt von Kindern.

Auch die Autoren des Zehnten Kinder- und Jugendberichts gehen auf Kin­der und ihr Wohnumfeld ein. Sie kom­men zu den gleichen weiter oben darge­stellten Erkenntnissen und vertreten eben­falls die Meinung, daß für Kinder je­den Alters ele­mentar wichtig ist, “Möglich­keit(en) der umfassen­den, selb­ständig-ak­tiven Aneignung von Er­fahrungen durch das Spielen im Wohnum­feld ohne elterliche Kontrolle“28 vorzufinden. “Kinder brauchen dazu öffentli­che Räume, Experimentierge­lände, ein offenes Aktionsfeld, in dem nicht alles endgültig festgelegt, defi­niert, mit Namen ver­sehen, unab­änderlich durch Ge­bote und Verbote re­glementiert ist. Besonde­re Bedeutung hat die Straße als Treffpunkt und Spielort. Die offenen Spielmöglich­keiten für Kinder in Außenräumen, vor al­lem auf der Straße, haben sich al­lerdings im Laufe der Jahr­zehnte ver­schlechtert. “29

Auch ist zu bedauern, daß die Spielplatzgestaltung zumeist nur an den (ver­meintlichen) Bedürfnissen von bis zu 7-jährigen orientiert ist und dem­zufolge für ältere Kinder wenig attraktiv sind.

Zusammenfassend geben sie u. a. folgende Empfehlun­gen30:

  • Bei der Gestaltung von Spielplätzen und Aufenthaltsräumen müs­sen die nach Alter und Geschlecht unterschiedlichen Bedürfnisse und Interes­sen der Kinder speziell berücksichtigt werden. Dazu zählen auch die wenig ge­stalteten Bewegungs- und Freiräume für die älteren Kinder.
  • Es müssen Vorraussetzungen geschaffen werden, damit sich Mäd­chen ebenso wie Jungen, sicher im öffentlichen Raum aufhalten können und so ihr Wohnumfeld frei erkunden und nutzen können.
  • Generationsübergreifende multifunktionale Treffpunkte könnten Kinder da­bei unterstützen, ihrem Bedürfnis nach sozialen Kontak­ten entgegen­zukommen. Diese Orte sollten aber nicht tageszeitlich begrenzt werden.
  • Dem Bedürfnis der Kinder nach Identifikation mit ihrem Wohnumfeld kann durch Rückzugsmöglich­keiten Rechnung getra­gen werden. Und zwar, indem man ih­nen ein vielseitig gestaltetes Um­feld bietet – mit Ni­schen, Vorsprüngen, Be­pflanzungen etc., wohin sie sich mit ihren Freunden zurückziehen können, um von dort ihre Umwelt zu beobach­ten und sich anzueignen.
  • Es sollten, da Planungsversäumnisse im großstädtischen Bereich nur schwer rückgängig zu machen sind, vorhandene Plätze und Räume zur Nutzung freigegeben und evtl. umgestaltet werden. Zu denken wäre hier an Schulhöfe, Sport­plätze, aber auch an Straßen im Wohngebiet, die zu Spielstraßen umfunktio­niert werden könn­ten – dies aber gerade nicht als räumlich ab­grenzbare Funkionsorte, welche wiederum mit einseiti­gen Funktionen und Kontrollen belegt wären.
  • Das Wohnumfeld, wie auch die Spielplätze, sollten multifunktional, anre­gungsreich, gestalt- und veränderbar sowie kontrollfrei sein, damit Kin­der aller Altersstufen sich darin selbständig und frei ent­wickeln können. Dies meint auch, daß ihnen hier Naturerfahrungen in Form von Grünflä­chen, Bächen, etc. geboten werden müssen.
  • Multikulturelle Begegnungsräume und -stätten könnten für Kin­der (und ge­nauso für deren Eltern) ebenfalls eine Möglichkeit darstel­len, sich ihr Woh­numfeld anzueignen, ihre Nachbarn also besser kennen und ver­stehen zu lernen sowie gegenseitige Ängste abzubauen. Besonders in be­nachteiligten Wohn­gebieten mit manchmal auch hohem Ausländeran­teil könn­te dies eine Möglichkeit sein, gemein­sam etwas im Wohnum­feld zu “bewegen“ und somit die soziale Infrastruktur verbessern helfen.

Die Adressaten dieser Empfehlungen sind die Kommunen mit ihren zu­ständigen Ämtern, wie z. B. dem Schulamt, dem Bauamt und der Kin­der- und Ju­gendhilfe. Hier wird auch ange­deutet, daß es sich bei der Umsetzung der Empfehlun­gen nicht vermeiden läßt, Querschnittspolitik zu betrei­ben.

Außerdem, so die Autoren, “ist bei der Planung und Gestaltung von Woh­nen und Wohnumfeld die Perspektive der Kinder stärker zu berücksichti­gen. Da­zu ist eine Beteiligung von Kindern im Planungsprozeß zu empfeh­len, wie sie von einigen Kommunen bereits erfolgreich praktiziert wird.“31

Sie kommen zu dem Schluß: “Wenn lebensweltorientierte Jugendhilfe dar­auf abzielt, daß Menschen sich als Subjekte ihres eigenen Lebens erfah­ren, ist Partizipation eines ihrer konstitutiven Momente.“32

Es wird also eine Politik für, mit und von Kindern und Jugendlichen einge­fordert, was nach den vorangegangenen Kapiteln ja auch Sinn macht. Und was dies im Einzelnen be­deutet, möchte ich in den weiteren Kapiteln behandeln.

  1. Tillmann 1997, Seite 9
  2. Tillmann 1997, Seite 12
  3. Rolff / Zimmermann 1997
  4. Ferchhoff 1999, Seite 77
  5. Dewe, zit. n. Deinet 1999, Seite 28
  6. Deinet, 1999
  7. Selle, zit. n. Kazemi-Veisari 1998, Seite 55
  8. Kazemi-Veisari 1998, Seite 56
  9. Deinet 1999, Seite 30 f
  10. Leontjew, zit. n. Rolff / Zimmermann 1997, Seite 56; Vgl. auch Holzkamp
  11. Schröder 1996, Seite 54
  12. Baacke 1994 und 1999
  13. Baacke 1999, Seite 109
  14. Baacke 1994, Seite 76
  15. Baacke 1999, Seite 116
  16. Baacke 1994
  17. Schröder 1996, Seite 43 f
  18. Baacke 1999, Seite 128
  19. Bartscher bezieht sich hier auf Untersuchungen von Blinkert und Hüttenmoser.
  20. Bartscher 1998, Seite 52 f
  21. Schröder 1996, Seite 54 f
  22. Schröder 1996
  23. Bartscher 1998, Seite 58
  24. Siehe Bartscher 1998, Seite 58; Vgl. auch Flade In Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-West­falen 1993 (Seite 39 – 54)
  25. Bartscher 1998
  26. Deinet 1999, Seite 37
  27. Baacke, zit. n. Deinet 1999, Seite 38
  28. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998, Seite 55
  29. Bundesministerium f ür Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998, Seite 55
  30. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998, Seite 56 ff
  31. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1998, Seite 61
  32. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1999, Seite 159